Sonntag, 31. Mai 2015

Selfies

"Kunst gibt nicht das Sichtbare wieder, sondern macht sichtbar!"
(Paul Klee)


Portraits im Amsterdamer "Rijksmuseum"


"Man sollte alle Tage wenigstens ein kleines Lied hören, ein gutes Gedicht lesen, ein treffliches Gemälde sehen und, wenn es möglich zu machen wäre, einige vernünftige Worte sprechen."
(Johann Wolfgang von Goethe)

Ich gehe leidenschaftlich gerne in Museen. Erst vor ein paar Tagen habe ich einem europäischen Museum von Weltrang einen Besuch abgestattet, um mir Bilder und Skulpturen längst vergangener Künstler anzuschauen. Und dann hatte ich eine Erkenntnis.

Der Bus fuhr morgens um sieben Uhr am Hauptbahnhof ab. Mit einer Busladung Jugendlicher fuhren wir in langen dreieinhalb Stunden für nur 35 Euro nach Amsterdam, Rückreise am Abend inbegriffen.
Der überwiegende Teil der Fahrgäste schien es dort vor allem auf Coffee-Shops und frei verfügbare Rauschmittel abgesehen zu haben, ich hingegen wollte ins Museum. Kaum hatte ich den Bus verlassen, ging ich schnurstracks zu Fuß Richtung "Rijksmuseum", reihte mich in eine Schlange von Menschen ein, die im zugigen Durchgangstunnel des Museums schon begierig darauf warteten, endlich eingelassen zu werden.

Nachdem ich 17,50 Euro Eintritt bezahlt hatte (natürlich erwischte ich die Praktikantin mit der chronischen Dyskalkulie an der Kasse und wartete geschlagene fünf Minuten, bis sie die Höhe meines Wechselgeldes errechnet hatte), durchschritt ich die weihevollen Hallen mit Werken von Rembrandt und van Gogh. Von letzterem hängt dort beispielsweise ein kleines Selbstportrait. Ein Ohr hat er sich angeblich abgeschnitten, aber zu Lebzeiten so gut wie keine Bilder verkauft - und doch ist er heute einer der wertvollsten Künstler der Welt. Direkt hinter dem Rijksmuseum befindet sich sogar ein eigenes Van-Gogh-Museum.

Rembrandt?

"Wenn ich wüsste, was Kunst ist, würde ich es für mich behalten."
(Pablo Picasso)

Menschen, Rembrandts "Nachtwache" fotografierend (l.), bewachend (m.) und betrachtend (r.).

Plötzlich geriet ich in einen Menschenauflauf vor einem riesigen Gemälde. Es war die berühmte "Nachtwache" von Rembrandt. Zwei Sicherheitskräfte bewachten es, zahllose Menschen fotografierten es wie wild, eine einzelne Frau stand aufmerksam davor und betrachtete es mit ihren Augen statt durch ein Smartphone. Ich selbst fotografierte die Menschen und die Frau. Die Security-Frau rechts neben dem Bild fixierte mich die ganze Zeit über, anscheinend verhielt ich mich irgendwie seltsam, weil ich nicht die "Nachtwache" fotografierte, sondern die Besucher.

Ein Bild rechts neben ihr erregte eher zufällig meine Aufmerksamkeit, es ist ganz klein. Das Motiv ist das gleiche wie auf dem riesigen "Nachtwache"-Bild, es ist eine Kopie davon und wird einem Schüler Rembrandts zugeschrieben. Niemand fotografierte es, nicht einmal ich. Und doch ist darauf genau das gleiche zu sehen wie auf dem berühmten Original, das am Ende einer Halle aufgehängt ist, über der in riesigen lateinischen Lettern der Name "REMBRANDT" prangt, und man kann sogar unbehindert davor stehen und sich in Ruhe jedes Detail anschauen. Beziehungsweise man könnte.

Offenbar sind alle Menschen der Meinung, nur an einem Original klebten noch irgendwelche mikroskopisch kleinen Reste von des Meisters Hand. Ein ähnliches Gefühl überläuft einen auch im Berliner Museum für deutsche Geschichte, wenn man vor Hitlers Schreibtisch oder Globus steht. Da ist noch etwas Hitler dran! Und an einem Picasso-Bild ist noch ein wenig Picasso dran! Auch ist dies - und nur dies - der Grund, warum Menschen Millionen ausgeben, um ein bestimmtes Kunstwerk auf einer Auktion zu ersteigern. Weil es das Original ist. Mit einer Spur des berühmten Künstlers daran.


Amsterdamer Rijksmuseum. Am Ende der Halle hängt Rembrandts "Nachtwache"

In einem Raum weiter vorne findet sich ein Selbstportrait Rembrandts, das ihn als Apostel Paulus zeigen soll (wozu ich nichts Gescheites sagen kann, da ich keine Ahnung habe, wie der Apostel Paulus ausgesehen hat. Eigentlich stelle ich mir da eher so einen Mann in einer Art Toga vor, Rembrandt trägt hier aber eher so etwas wie ein Handtuch um sein Haupthaar gewickelt). Auch dieses Bild erhält viel Aufmerksamkeit von Besuchern. Rembrandt ist übrigens sein Vorname, eigentlich heißt der Herr "van Rijn". Man fragt sich, warum alle Welt von "Rembrandt" spricht und nicht von "van Rijn", das ist ja irgendwie so, als würde man statt von Picasso nur von "Pablo" reden oder statt von "van Gogh" einfach nur von "Vincent". Egal.

Eingefangene Momente

"Gebraucht der Zeit, sie geht so schnell von hinnen." (Goethe)

Rembrandt van Rijn, Selbstportrait als Apostel Paulus (um 1661).


Portraitbüste Johann Neudörfer der Jüngere (ca. 1580)


Selfie Reinhard Schinka (2015)


Ich fotografierte das Selbstportrait, ging einen Saal weiter, wo weitere Portraits von Menschen hingen, die längst tot sind, bewunderte die Portraitbüste eines Menschen, der im 16. Jahrhundert gelebt hatte und längst zu Humus verrottet ist, machte ein Selfie vor einem alten Meister. Und als ich die Vorschau des Selfies betrachtete, dachte ich kurz nach. Warum fotografieren wir uns selbst? Warum malen Künstler Bilder von sich selbst? Warum fotografieren Menschen Bilder, die sie im Internet in sehr viel besserer Qualität bequem von zu Hause herunterladen könnten? Warum fotografieren sich Menschen vor Bildern berühmter Künstler? Warum geben Menschen Künstlern Aufträge, sie zu malen?
Und dann hatte ich einen Gedanken.

Wir machen das, weil wir einen Moment unseres Lebens festhalten wollen, der vorübergeht.
Wir wollen den Moment eines Lebens festhalten, das auch so schnell vorübergeht.
Wir wissen, dass wir sterben werden, und wir wissen, dass wir das nicht ändern können.
Und doch wollen wir bleiben, wollen wir den Augenblick festhalten und am liebsten in Stein meißeln.

Deswegen malte Rembrandt sich selbst, deswegen fotografieren sich Menschen vor Bildern, deswegen schieße ich immer wieder mal ein Selfie. Wir wollen nicht zu Staub werden und einfach so dahingehen. Wir wollen, dass, wenn schon nicht wir selbst, wenigstens etwas von uns zurückbleibt. Und wenn schon nicht wir selbst, dann wenigstens ein schöner Moment, den wir festgehalten haben.


Wie schnell doch die Zeit vergeht... zwischen beiden Bildern liegen 40 Jahre.

Die Wahrnehmung des "Jetzt", so las ich einmal, dauere 0,3 Sekunden. Man kann die Gegenwart also eigentlich gar nicht "live" wahrnehmen, sondern hinkt immer ein wenig hinterher. Aber das ist noch nichts im Vergleich zum Leben, das ja auch so schnell an einem vorüberzieht. "Geburt und Grab, ein ewiges Meer", heißt es in Goethes "Faust" (der Titelheld lässt sich als erstes auch gleich einmal vom Teufel Mephisto um einige Jahre verjüngen).

Und in einem meiner Lieblingsfilme, "Ferris macht blau", sagt Titelheld Ferris ziemlich zu Anfang: "Das Leben geht ziemlich schnell vorbei. Wenn ihr nicht ab und zu anhaltet und euch umseht, könntet ihr's verpassen."

Vielleicht denke ja nicht nur ich des Öfteren "Eben habe ich doch noch in der Schule gesessen und Tische bemalt. Wie konnte die Zeit denn nur so schnell vorbeigehen?". Und immer, wenn mir dieser Gedanken durch den Kopf schießt und ich gleichzeitig das Gefühl habe, dass das Leben trotzdem gerade eigentlich ganz schön ist, dann weiß ich: Jetzt ist es wieder an der Zeit - für ein Selfie!

_________________________________________

Nachtrag: Ein sehr bewegendes Bild tauchte heute in meiner Instagram-Timeline auf: Ein todkranker Patient betrachtet ein Rembrandt-Selbstportrait - er wollte es vor seinem Ableben noch einmal sehen.

https://instagram.com/p/3tFRVINl6Y/



_________________________________________

Weblinks:

Frühe Selfies:
http://www.spiegel.de/einestages/historische-selfies-selbstportraets-aus-der-foto-fruehzeit-a-1037694.html

Rembrandt:
https://de.wikipedia.org/wiki/Rembrandt_van_Rijn

Van Gogh:
https://de.wikipedia.org/wiki/Vincent_van_Gogh


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen