Sonntag, 12. November 2017

Nahtod-Transit

"Der Tod lächelt uns alle an, das einzige, was man machen kann, ist zurücklächeln!" (Marcus Aurelius)


Vor einigen wenigen Wochen noch saß ich glücklich am Ufer des Mittelmeeres, schlürfte entspannt einen französischen Kaffee und genoss im T-Shirt die Sonne. Eine Woche später lag ich künstlich beatmet auf einer Intensivstation in Deutschland. Wie das? Ein Bericht.


"Hab keine Angst -  wenn ich müde werde, helfen mir die Meerjungfrauen weiter!" (Le grand bleu)

Alter Hafen von Marseille, Frankreich


Marseille, Sonntag, 22.10.2017

Mit zwei Stapeln Klausuren im Gepäck erreichte ich Marseille noch am späten Nachmittag. Ich checkte kurz in mein Airbnb-Appartement ein und nahm sofort für 2 Euro den Bus zum Alten Hafen (Vieux Port).
In Marseille war - anders als in Deutschland oder noch im elsässischen Strasbourg, wo ich zuvor übernachtet hatte, - Sommer. Auch wenn einige empfindlichere Einheimische bereits  in Steppjacken unterwegs waren, konnte man es noch gut mit T-Shirt und zur Not mit einem dünnen Pullover aushalten.

Mein Appartement lag im Norden der Stadt. Ich beschloss, jeden Morgen früh aufzustehen, einige Klausuren zu korrigieren, und dann spätestens gegen Mittag ausgedehnte Wanderungen und Fahrten zu machen, was ich auch tat. Ich wanderte und wanderte. Ich wanderte, bis mir Rücken, Beine und Po so weh taten, dass ich spürte, dass ich in den letzten Monaten viel zu viel am Schreibtisch gesessen hatte. Sobald ich merkte, dass die Sonne zu stechen begann, fuhr ich heim. So schaffte ich immerhin einen sonnigen Urlaub ganz ohne Sonnenbrand.

Anse des Catalans, Marseille. 29.10.2017.

Eine Woche später, am 29. Oktober, wieder an einem Sonntag, badete ich trotz starken Windes im Mittelmeer, in der "Bucht der Katalanen" (Anse des Catalans). Eigentlich hatte ich das schon zwei Tage vorher versucht, mich aber auf dem Weg zum Strand ohne Navi ("Der Strand kann ja nicht so schwer zu finden sein!") hoffnungslos auf den Betonpisten Marseilles verfranst und war am Ende gar in Aix-en-Provence gelandet, 25 km außerhalb Marseilles. Auf dem Rückweg besuchte ich die ehemalige Künstlerkolonie L'Estaque. Von dort aus kann man die ganze Bucht von Marseille wunderbar überblicken.

L'Estaque - Blick über die Bucht von Marseille.

In L'Estaque wehte ein heftiger Mistralwind von Norden. Der Mistral ist ein sehr trockener Wind, der vom Rhônetal Richtung Süden weht, wenn über Mitteleuropa Tiefdruckgebiete rotieren. Er ist extrem stark und trocken; kalt ist er jedoch nicht. 

Sonntagabend verspürte ich ein leichtes Kratzen im Hals, später dann merkte ich, dass ich leichtes Fieber bekam, das aber nicht weiter anstieg. 

Zwischendurch las ich immer einen beeindruckenden Roman von Anna Seghers, er heißt "Transit" und spielt zur Zeit der Besetzung Frankreichs durch Deutschland im Jahr 1941/1942 - in Marseille.


Transit

"Hier mussten immer Schiffe vor Anker gelegen haben, genau an dieser Stelle, weil hier Europa zu Ende war und das Meer hier einzahnte, immer hatte an dieser Stelle eine Herberge gestanden, weil hier eine Straße auf die Einzahnung mündete. Ich fühlte mich uralt, jahrtausendealt, weil ich alles schon einmal erlebt hatte, und ich fühlte mich blutjung, begierig auf alles, was jetzt noch kam, ich fühlte mich unsterblich." (Anna Seghers, Transit)


Lieblingsort des Ich-Erzählers aus "Transit": Das Café am Vieux Port


Der Ich-Erzähler in Anna Seghers' Roman sitzt Anfang der 40er-Jahre in Marseille fest. Deutschland marschiert in Frankreich ein; in Marseille drängen sich die Flüchtlinge, die Bürokratie hindert jedoch viele an der schnellen Ausreise. Bevor man die Stadt und das Land verlassen kann, muss zunächst eine Ausreisegenehmigung her, die man aber nur erhält, wenn eine Bescheinigung vorliegt, dass einen ein anderer Staat auch aufnimmt, ein Visum muss also beschafft werden, für das man aber wiederum zunächst Bescheinigungen zur Durchreise anderer Länder benötigt, so genannte Transits (und dazu muss man auch eine Fahrkarte vorweisen, denn sonst geht alles wieder von vorne los). Eine kafkaeske Kälte durchweht den gesamten Roman.

Der Erzähler macht es sich mehr oder weniger ohne Geld in Marseille erst einmal "gemütlich", und eine Dreiecksgeschichte zwischen dem Ich-Erzähler, einer (wie könnte es anders sein?) schönen und interessanten Dame sowie ihrem eher distanzierten Lebensgefährten, einem Arzt, nimmt ihren Lauf - und endet tragisch.

Die Erzählung schlug mich nach und nach immer stärker in ihren Bann, und ich ging auf Spurensuche. Ich saß im Lieblings-Café des Ich-Erzählers (bzw. an dessen ehemaligem Standort, denn 1943 ließ Heinrich Himmler durch Wehrmacht und Waffen-SS die halbe Altstadt Marseilles sprengen, da ihm das alles zu unübersichtlich war und man Résistance-Angriffe fürchtete. Das Kriegsverbrechen wurde nie geahndet), ich besuchte die Rue de la Providence, in der der Erzähler gewohnt hatte; ich durchschritt die kurze Rue du Relais, in der der Arzt und die Dame gewohnt hatten, ich schlenderte jeden Tag den Cours Belsunce hinauf und herunter (Marseille ist sehr hügelig), und ich besuchte andere Orte des Geschehens, sogar am mexikanischen Konsulat war ich kurz, freilich, ohne jeden vernünftigen Grund. Die Hauptstraße La Canebière war eh Dreh- und Angelpunkt meiner Buslinie zu meinem Appartement.

So ging die Woche vorüber, doch am Montag nach meinem Bad im Mittelmeer wachte ich mit einem entzündeten Rachen auf und beschloss, einmal einen Einkaufs-, Aufräum- und Pausentag einzulegen. Ich knabberte an einem afrikanischen Weißbrötchen, es tat weh.

Dies war dann für über eine Woche die letzte feste Nahrung, die ich zu mir nahm.


Transit nach Deutschland 

Der Dienstag begann noch unangenehmer als der Montag: Mein Hals war entzündet, beim Atmen rasselte es ein wenig. Ich dachte kurz an das Hôpital Nord, das ich im Norden der Stadt auf dem Weg nach Aix en Provence im Vorüberfahren gesehen hatte: ein 50er- oder 60er-Jahre-Bau, riesig, anonym - und man sprach vermutlich nur französisch. Die Website des Klinikums war tot. Ein Ort zum Sterben.

Ich checkte aus.

Da mein Tank fast leer war, fuhr ich zunächst wieder Richtung Aix-en-Provence - einen nur kleinen Umweg, wie ich meinte -, denn dort hatte ich an der Autobahn kurz hinter Marseille eine Tankstelle gesehen. So würde es am schnellsten gehen, und das musste es auch, denn als ich mich endlich dazu durchgerungen hatte, doch die 1100 km nach Deutschland zurückzufahren, war es bereits mittags um halb eins. An der Tankstelle fuhr ich in Gedanken vorbei.

Erst bei Aix-en-Provence bemerkte ich meinen Fehler, zum Glück sah ich an einer Ausfahrt eine weitere Tankstelle und kreuzte unter dem Hupen Einheimischer alle Fahrbahnen und fuhr ab. 50 Liter später war der Tank voll, und es konnte weitergehen.

Leider entpuppte sich der "kleine" Umweg als schier endlos, da ich via Landstraßen und Umleitungen über alle möglichen kleinen (allerdings auch sehr hübsche) Dörfer geleitet wurde. Als ich endlich wieder auf der Autobahn war und an der Aire de Portes-lès-Valence meine erste Rast benötigte, hatte ich noch ganze 870 km vor mir, also etwa zweimal die Strecke Hamburg - Köln.

Schon um 17:30 Uhr ging die Sonne unter. Fortan fuhr ich im Dunklen und hatte eher wenig Glück mit meinen Rastplätzen; auf den meisten standen nur ein paar einsame Lkw herum, alles war nahezu unbeleuchtet. Ich hielt jetzt nur noch, wenn ich unbedingt musste, die zweite Tankfüllung würde bis daheim reichen.

An Essen war nicht zu denken, jedes Schlucken tat höllisch weh. Ich trank auch nur noch winzige Portionen. Gleichwohl konnte ich ganz prima Auto fahren, vermutlich kann ich das sogar als Zombie noch.

Um kurz nach Mitternacht traf ich zu Hause ein und wollte nur noch sterben. Ich war sogar zu erschöpft für die Notaufnahme und beschloss, die Nacht noch einmal zu Hause zu verbringen. Trotz Schmerzen schlief ich sofort ein und bis 6 Uhr durch.


Im Klinikum

Am nächsten Tag fühlte ich mich etwas erholter, gleichwohl war der Hals noch stärker angeschwollen, auf der linken Seite beulten die Lymphknoten den Hals bereits wie Kugeln von innen aus. Ich fuhr ins Klinikum (zunächst ins falsche, dann ins richtige) und marschierte in die Notaufnahme, wo man mir bedeutete, dass man a) einen chaotischen Tag mit vielen Notfällen habe und ich b) jetzt einer davon sei, der ziemlich umgehend operiert werden müsse ("Verdacht auf Abszess"). Ich konnte noch schnell ein paar WhatsApp-Nachrichten an die Familie absetzen, dann ging es auch schon in den Operationssaal und mein weiteres Schicksal lag in den Händen der Ärzte.


"Nahtod"

"Du schlägst die Augen auf - in einem Krankenhaus." (Die Toten Hosen)

Im Klinikum.


Den Rest vom Dienstag und den ganzen Mittwoch lag ich intubiert unter Narkose auf der Intensivstation, letztlich handelte es sich um eine ausgedehnte "Mandel-OP". Zudem wurde etwas entfernt, das die Ärzte als "beginnenden Abszess" beschrieben. Da meine eigenen Erinnerungen nach einem wohl heftigen Durchgangssyndrom von dem abweichen, was man mir schilderte, hier nur die Kurzfassung:

  • Es gab leichte Komplikationen während der Narkose, ich wurde tachykard, später ging mein Puls auf 40 runter.
  • Nach der Narkose muss ich manischen Unsinn erzählt und wild um mich gefuchtelt haben (in meiner - vermutlich falschen - Erinnerung habe ich einen lustigen Spruch gemacht, na ja, vielleicht war er nur für mich lustig), so dass man mich fixierte und mir Haloperidol (ein Neuroleptikum, mit dem man normalerweise schizophrene Symptome behandelt) verabreichte, woraufhin ich noch einen weiteren Tag vollkommen katatonisch wurde.
  • Man fuhr mich zuerst auf eine normale Station, dann wieder zurück auf die Intensivstation. Ich konnte gerade so atmen und nur mit der rechten Hand irgendwelche Zeichen, eigentlich nur drei (Daumen hoch, runter oder ein So-lala-Zeichen), machen. An diesen Tag habe ich volle Erinnerungen, aber ausschließlich traumatische.

An den Tagen danach wurde ich stabiler und wacher und bekam auch wieder Besuch, und meine Tochter (21) fragte mich: "Hattest du eine Nahtod-Erfahrung?"
Ich dachte kurz für mich: "Das WAR die Nahtod-Erfahrung! Näher ran geht nicht.", antwortete aber: "Nein."

In meiner (vermutlich falschen) Erinnerung war ich durchgehend bei Bewusstsein, jedoch vollkommen bewegungsunfähig, atmete durch einen Schlauch und habe tagelang nur darauf gewartet, dass etwas passiert, bis ich dann am dritten Tag wieder auferstand. Ein totaler Alptraum.


Heim-Transit

"[Der Hafenamtsvorstand] fragte: 'Wo ist Ihr Flüchtlingsschein?' Ich kramte Yvonnes Schein hervor. Er kam zu den Akten. Das Hafenamt stempelte. Ich war abfahrtsbereit."

(Anna Seghers, Transit)

Nach drei Tagen auf einer normalen Station kam ein neues Problem hinzu: Ich war hoffnungslos unterbeschäftigt und mental ausgelaugt. Kein Problem im medizinischen Sinne, für mich aber schon. Das einzige Buch, das ich noch lesen konnte, eine Biografie, war viel zu detailfixiert und langweilig, das Smartphone gab auch nichts mehr her, den Fernseher teilte ich mir mit einem älteren Herren und wir guckten aus gegenseitiger Rücksichtnahme eigentlich nur Nachrichten zusammen (was im Prinzip toll war - auf anderen Zimmern hatte ich RTL II oder Kika mitanschauen müssen). Ich wollte dennoch heim.

Nun kommt man in Krankenhäuser leichter hinein als wieder hinaus. Am Montag hatte ich dann ähnliche Erlebnisse wie ein "Transit"-Ausreisewillger in Marseille auf dem mexikanischen Konsulat: Irgendwo fehlte immer noch etwas, eine Information, eine Unterschrift, alles drohte sich um weitere Tage zu verzögern, und ich war dabei sicher: Noch einen Tag im Krankenbett ertrage ich nicht mehr. An dieser Stelle sei jedoch angemerkt, dass die Versorgung exzellent war und Ärzte sowie Schwestern und Pfleger mehr als kompetent waren! Und gegen ihren Rat wäre ich nicht auf eigene Verantwortung gegangen. Aber ich wollte raus. Doch meinen "Transit-Schein" bekam ich nicht so schnell.

Es folgte zunächst eine Untersuchung meines Rachens - alles sah nicht schlecht aus -, doch dann kamen noch neue Zweifel auf:

"Nach einer Mandel-OP muss man noch mindestens vier Tage auf Station bleiben."
"Die sind gerade um."
"Das muss ich nachprüfen."

Sie waren um. Gerade so.

"Ich brauche noch die Zustimmung des Oberarztes."
Der Oberarzt stimmte zu.

"Wir brauchen noch den Stempel. Wo ist der?"
Er fand sich.

Mir wurden Auflagen gemacht:
  • Am nächsten Tag wieder vorstellig werden zum Nachcheck! 
  • Nicht zu weit vom Klinikum entfernen, keine Reisen, kein Sport, kein warmes Bad, keine heißen Duschen, keine Anstrengungen! 
  • Bei der kleinsten Blutung oder Nachblutung im Rachen sofort 112 rufen und mit dem Rettungswagen zurückkehren! 

Ich sagte alles zu, die Ärztin stempelte. Ich war abfahrtsbereit.







PS.: Heute geht es mir bis auf die noch schmerzende Wunde im Rachen wieder ganz gut.

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Weblinks

Marseille in einer Minute https://youtu.be/bBkK69q30Aw

Carnets de Julie (frz.) - Marseille (beginnt in L'Estaque) https://youtu.be/Z-aPMumWZT8

Marcel Reich-Ranicki über Anna Seghers - https://youtu.be/wMgik0UzpBE

Paul Czézanne - Blick über die Bucht von Marseille, von L'Estaque aus gesehen:
https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/c/c8/Paul_C%C3%A9zanne_044.jpg

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